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MUSKEPEER: Jugendlichen aus der Heimerziehung Gehör verschaffen

Warum machen wir die Muskepeer-Seminare mit Jugendlichen aus der Heimerziehung? Was wollen wir damit und was soll es den Jugendlichen bringen? Was ist uns mit dem ersten Durchlauf gelungen und was auch nicht? Was sind die offenen Fragen? In diesem Artikel gehen wir auf einige dieser Fragen ein:

Über 100.000 Kinder und Jugendlichen leben in Deutschland in Heimen und Wohngruppen der Jugendhilfe. Sie sollen dort einen neuen Lebensort, einen Sozialisationsraum, einen Schutzraum und Betreuer_innen vorfinden, die ihnen dabei helfen, den Weg ins Erwachsenenleben zu meistern.

Dies in enger Abstimmung mit der Herkunftsfamilie und unter der Steuerung des Jugendamtes, das mit allen Beteiligten gemeinsam den Lebensort Heim oder Wohngruppe aussucht und regelmäßig bespricht, wie es weitergehen soll. In „Hilfeplangesprächen“ sollen unter Wahrung der Beteiligungsrechte die jeweils nächsten Schritte mit allen Beteiligten besprochen werden. Auch in der Einrichtung soll Beteiligung ein wesentliches Prinzip des Alltags und auch der pädagogischen Arbeit sein. In Anlehnung an Stefan Schnurr kann Beteiligung verstanden werden als Mitwirkung an Entscheidungen über Bedarfe, Angebots- und Leistungsstrukturen sowie über die Art und Form der Leistungserbringung (hier: Hilfe zur Erziehung als Heimerziehung). Diese Mitwirkung kann verschieden organisiert werden: über die Anhörung der Kinder und Jugendlichen, über eine Mitentscheidung, über ein Vetorecht oder über die alleinige Verantwortung für die Entscheidung. Zwei Beispiele dazu:

Im Hilfeplan (dort wird festgelegt, welche Form der Hilfe geeignet ist) können die Kinder und Jugendlichen Wünsche und Vorstellungen zur Form der Hilfe äußern und auch mitentscheiden, in welcher Einrichtung diese Hilfe erbracht werden soll.

In der Einrichtung sollten die Kinder und Jugendlichen mitentscheiden könne, welche Regeln aufgestellt werden. Immerhin leben sie ja i.d.R. sieben Tage die Woche in der Einrichtung.

Es gibt viele Hinweise darauf, dass Beteiligung als eine der wesentlichen Strukturmaxime in vielen Fällen im Hilfeplan und in den Einrichtungen aber gerade nicht Alltag ist. Und das, obwohl es fachlich geboten, gesetzlich geregelt, grundgesetzlich garantiert und international verbindlich (UN-Kinderrechtskonvention) ist. Darüber hinaus wissen wir auch, dass Beteiligung ein wesentlicher Faktor für gelingende Hilfeplanung ist. Dennoch ist Beteiligung, so beschreibt es Liane Pluto in einer Studie über Beteiligung in den Hilfen zur Erziehung, nur als Begriff, aber wenig im pädagogischen Alltag angekommen (Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie. München: Deutsches Jugendinstitut).

Diese Ausgangssituation (Beteiligung ist ein wesentliches Recht und wirksam für den Erfolg von erzieherischen Hilfen, aber sie ist im Alltag in vielen Fällen kaum gelebte Praxis) ist zwar in vielen Studien beschrieben. Was wir aber wenig wissen, sind die Einschätzungen der jungen Menschen selbst zu ihrer Beteiligung. Dies war Ausgangspunkt für ein sehr besonderes Seminar des Kinder- und Jugendhilferechtsverein (KJRV) e.V.: Zwischen November 2014 und September 2015 haben Jugendliche, die selbst in sächsischen Heimen und Wohngruppe leben, miteinander an den Themen Beteiligung im Hilfeplan und in der Wohngruppe gearbeitet.

Über einen Flyer, der an alle Heime und Wohngruppen in Sachsen verteilt wurde, haben wir 13 Jugendliche gewinnen können, die in insgesamt 7 Seminaren an sechs Wochenende und einer Woche miteinander gearbeitet haben. Gemeinsam mit vier Sozialpädagog_innen haben diese jungen Menschen u.a. folgende Fragen besprochen:

  • Wo komme ich her? Wie sieht meine Wohngruppe aus? Wie kann ich mich dort beteiligen? Welche Möglichkeiten der Mitbestimmung habe ich real?
  • Wie stelle ich mir eine Betreuerin oder einen Betreuer vor? Was müsste er_sie mitbringen? Wir schreiben eine Stellenausschreibung.
  • Welche Kinderrechte gelten für Jugendliche in Wohngruppen? Wie kann ich mich darauf berufen? Wie setze ich meine Rechte durch?
  • Wie wird bei uns in der WG mit Taschengeld umgegangen? Taschengeld wird häufig vorenthalten, haben wir erfahren.
  • Wird die Post in der Wohngruppe von den Betreuer(innen) gelesen? Dürfen die das?
  • Dürfen Jugendliche über die Gelder der Wohngruppe mit entscheiden? Sollten sie gefragt werden, ob ein neues Sofa oder ein neuer Fernseher gekauft wird?
  • Darf ich ein Handy haben? Muss für mich ein Internetzugang zur Verfügung stehen? Darf ich bei den Regeln in der Wohngruppe mitreden?
  • Welche Rechte habe ich im Hilfeplangespräch? Darf ich die Einrichtung mit aussuchen? Dürfen die Erwachsenen über mich reden, wenn ich nicht dabei bin? Darf ich einen Freund mitbringen ins Gespräch?
  • Wann war ein Hilfeplangespräch gut für mich? Und was war das Gute daran? Was rate ich anderen Jugendlichen, die zum ersten Mal in so ein Gespräch gehen?

Diese und viele andere Fragen haben die Jugendlichen über Stunden und Tage diskutiert. Viele der Antworten sind eingeflossen in eine Broschüre („Deine Rechte im Hilfeplanverfahren“), von denen wir mittlerweile über 4.000 Stück verschickt haben in die ganze Bundesrepublik. Vor kurzem mussten wir 5.000 Stück nachdrucken. Die Broschüre (www.muskepeer.de) ist (bis auf wenige Ausnahmen) komplett von den Jugendlichen selbst geschrieben worden. Das wird auch in den Formulierungen deutlich.

Außerdem haben die jungen Menschen ein Kinderrechte-Quiz entwickelt. In 13 Fragen und mit bis zu 39 Antwortmöglichkeiten kann dieses Quiz eine gute Gelegenheit sein, mit Kindern und Jugendlichen, die in der Heimerziehung leben, über Kinderrechte ins Gespräch zu kommen: Dürfen Betreuer_innen einfach so ins Zimmer kommen? Darf Dir jemand den Kontakt zu Deinen Eltern verbieten? Diese und weitere Fragen nimmt das Quiz auf. Am Ende steht immer die korrekte Antwort, die manchmal auch überraschend ist. Das Quiz darf gern ausprobiert und weitergereicht werden (www.muskepeer.de).

Diese und weitere Ergebnisse sind in einem „Starterpaket“ gebündelt worden. Was ist das? Die Jugendlichen haben sich gefragt, was Sie hätten wissen wollen und was sie gut hätten gebrauchen können, als sie neu in die Heimerziehung kamen. Aus diesen Fragen ist ein Paket entwickelt worden, das sinnvolle und aufklärende Dinge vereint: Ein Türschild, ein Kinderrechte-Plakat, das Quiz und die Broschüre, ein Notizblock und ein Stift, Klebeband für ein Poster an der Wand, einen Fragenkatalog für die ersten Gespräche mit den Betreuer(innen), einen Beutel für Einkäufe, ein Schlüsselband, damit niemand sagen kann: Ich gebe Dir keinen Schlüssel, Du verlierst ihn ja doch. Die Frage war also bei der Konzipierung dieses Starterpakets: Was stärkt Kinder und Jugendliche bei diesem Schritt in die Wohngruppe? Der Inhalt macht es deutlich: Nützliche Dinge, Informationen und Mut machende Kleinigkeiten. Wer versteht schon, was dieser Schritt für Jugendliche bedeutet? Doch am besten jene, die ihn selbst einmal gegangen sind.

Deshalb haben wir die Muskepeer-Jugendlichen am Ende auch auf eine Fachtagung eingeladen. In Leipzig im September 2015 hat der KJRV eine Fachtagung unter dem Titel „Rechte stärken“ veranstaltet, in der auf die Beteiligungsmöglichkeiten in der Heimerziehung geschaut werden sollte. Acht Muskepeer-Jugendliche diskutierten mit über einhundert Fachkräften über Beteiligung – ein wunderbarer Abschluss eines intensiven Prozesses über 11 Monate.

Was stellen wir Professionelle mit Blick auf die vergangenen sieben Seminare fest? Es gelingt, mit Jugendlichen aus der Heimerziehung, und also mit Jugendlichen, die besonderen Herausforderungen ausgesetzt sind, intensiv und langfristig an sie betreffenden Themen zu arbeiten. Uns hat überrascht, mit welcher Zuverlässigkeit und Bereitschaft über sehr viele Stunden am Tag (es waren an manchen Tagen 10 Stunden intensive Arbeit) es gelingen kann, etwas zu diskutieren, es dann vom konkreten Gegenstand zu lösen und auf eine andere Ebene zu heben. Denn es können solche Ergebnisse ja nur erreicht werden, wenn eine gewisse Abstraktions- und Reflektionsebene erreicht wird. Uns hat weiterhin überrascht, wie konfliktarm diese insgesamt 26 Tage abliefen. Auch wir hatten ein Bild am Beginn dieser Zeit. Und dieses Bild von konfliktreichen Situationen war von unseren jeweiligen Erfahrungen als Betreuer(innen) in Wohngruppen geprägt. Klar gab es auch mal Konflikte in den Seminaren. Aber insgesamt waren unsere Zusammenarbeit und unsere gemeinsame Zeit davon geprägt, dass wir um den Wert dieser kleinen Gemeinschaft wussten und so gab es ein ungeheures Bemühen um eine verständnisorientierte Grundstimmung. Allerdings sind uns auf dem Weg über diese sieben Seminare auch drei Jugendliche verloren gegangen. Wir wissen nicht genau, woran es lag. Vielleicht hätten wir uns stärker um sie bemühen müssen. Wir wollen beim nächsten Durchlauf stärker in den Blick nehmen, wie es auch Einzelnen geht – selbst wenn die Gruppe scheinbar harmonisch und konstruktiv miteinander arbeitet.

Welche Fragen bleiben offen? Einer der Ausgangspunkte für die Seminare war die Überlegung, wie es gelingen kann, Jugendliche selbst zu „Peer-Berater(innen)“ auszubilden (daher der Name „Muskepeer“), die dann mit erfahrenen Fachkräften in einer ombudschaftlichen Beratung andere Jugendliche beraten können, die im Konflikt mit dem Jugendamt oder der Einrichtung stehen. Wir fanden das eine gute Idee. Dieses Ziel war im ersten Durchlauf so nicht umsetzbar, wohl auch deshalb, weil die Arbeit an einer Broschüre etwas Handfesteres war als die Einübung von Beratungstechniken. Auch bleibt uns unklar, ob ein solcher Ansatz tatsächlich verantwortbar wäre. Diese Frage bleibt offen. Oder sie ist schon beantwortet, weil die Jugendlichen in der Praxis doch andere Jugendliche beraten – nämlich in ihrer Einrichtung über Kinderrechte im Alltag und über die Broschüre, das Starterpaket und das Kinderrechte-Quiz. Wir denken darüber nochmal nach.

Ist es nun gelungen, Jugendlichen aus der Heimerziehung Gehör zu verschaffen, wie es der Titel intendiert? Wir sind einen Schritt weiter. Was sich damit aber selbstverständlich nicht erledigt hat, ist die im Alltag immer wieder festzustellende Nichtbeachtung von Kinderrechten in der Hilfeplanung und in der Heimerziehung und. Deshalb startet ein neuer Durchlauf „Muskepeer 2016“ ab April mit einem Schwerpunkt auf Beteiligung in der Heimerziehung. Damit Jugendlichen sich mehr Gehör verschaffen können. Mehr Infos: www.muskepeer.de

Am Projekt Muskepeer sind und waren Nicole Schumann, Elsa Thurm, Kai Fritsche, Jasmin Flade und Björn Redmann beteiligt.

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