Wer in der Jugendhilfe lebt, ob in einer Wohngruppe oder bei einer Pflegefamilie, weiß, dass dieses Leben dort ein Ende hat. Meist endet es spätestens mit dem 18. Lebensjahr. Das müsste zwar nicht sein – es gibt auch die Möglichkeit, länger dort zu leben – aber in der Regel beenden die Einrichtungen und die Jugendämter diese Hilfen mit dem 18. Lebensjahr. Bei wem dieser Wechsel droht, oder wer ihn schon durchlebt hat, kann sich Careleaver nennen (Care = Hilfe; Leaving = Verlassen). Es sind Menschen, die Hilfen verlassen (müssen). Übrigens: Wer zu Hause bei den Eltern aufwächst, zieht im Durchschnitt erst mit 24 ein halb Jahren aus.
Careleaver müssen den Übergang vom Leben in der Jugendhilfe hin zu einem selbständigen Wohnen und Leben also früher durchmachen. Und sie sind in der Regel mit mehr Belastungen unterwegs. Sie haben häufig keinen entspannten und belastbaren Kontakt zu den eigenen Eltern, haben häufig wenig finanzielle Unterstützung, können nicht mal einfach nach Hause gehen, um Wäsche zu waschen oder den Computer zu nutzen, können häufig nicht mal so eine Nacht zu Hause schlafe – sie haben insgesamt in vielen Fällen weniger Unterstützung als diejenigen, die bei ihren Eltern aufwachsen konnten.
Zwölf Careleaver haben auf Einladung des Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. und mit Unterstützung der Drosos Stiftung ein erstes Wochenende gemeinsam in Dresden verbracht. Das ist in Sachsen eine Premiere und sie ist rundum geglückt. Zwölf junge Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren fanden sich auf dem CVJM-Jugendschiff auf der Elbe ein, um sich kennenzulernen, miteinander zu diskutieren und voneinander zu profitieren. Alle Careleaver leben oder lebten in Wohngruppen der Jugendhilfe oder in Pflegefamilien. Sie sagen ganz deutlich, dass es einfacher ist, sich zu öffnen, wenn klar ist, dass alle ein ähnliches Schicksal teilen. Darin liegt wohl auch die spezielle Qualität, die sich an dem Wochenende entwickelt hat.
Fast alle reisten allein an, fast niemand von den jungen Menschen kannte sich vorher. Nach einer ersten Kennenlern-Runde am Freitag und dem Beziehen der Kabinen haben die Careleaver gemeinsam mit den vier Teamer_innen ihre Erwartungen, Befürchtungen und Wünsche ausgetauscht, die sie an und gegenüber diesem Seminar hatten. Daraus wurde dann ein Seminarplan entwickelt, der für dieses und die noch kommenden zwei Seminarwochenenden gelten soll. Erwartet werden viel Neues zu erfahren, viele Gespräche und Diskussionen, Akzeptanz und ein ordentlicher Umgangston sowie Ehrlichkeit und Offenheit. Viel verlangt für eine Runde von jungen Menschen, die sich bisher nicht kannte. Es sollte sich herausstellen, dass dies alles weitgehend so eintreten würde. Nach der Diskussion um gemeinsame Regeln und einem Spieleabend ging es am kommenden Morgen um 8 Uhr mit dem Frühstück weiter.
Der Samstag stand unter dem Motto: Wer bin ich und was macht mich stark? So haben wir den Tag mit der Arbeit an vier Thementischen begonnen. Nacheinander gingen alle Gruppen (je 3 bis 4 Careleaver) zu verschiedenen Tischen, an denen diskutiert wurde: Was zeichnet mich aus? Mein Leben in der Pflegefamilie/Wohngruppe. Wo sehe ich mich in 10 Jahren? Wie wird in meiner Einrichtung mit den Ehemaligen/Careleaver umgegangen? Im Laufe der Diskussionen wurde klar, dass Careleaver durch ihre wechselvolle Lebensgeschichte keine Angst mehr vor kommenden Herausforderungen haben. Das Wissen um bereits bewältigte Krisen scheint für diese Jugendlichen ein wichtiger Widerstandsfaktor zu sein. Was die Urteile der Mitmenschen betrifft, haben sie sich ein dickes Fell wachsen lassen. Die Careleaver waren nach eigenen Angaben viel eher bereit, anderen zu helfen als auf sich selbst zu achten. Die Wertung dieser Eigenschaft – „Hilfsbereitschaft“ – war entsprechend ambivalent. Grundsätzlich waren die teilnehmenden jungen Männer und Frauen des Careleaver-Wochenendes überzeugt von den Vorteilen ihrer besonderen Lebensgeschichte, was folgendes Zitat einer Teilnehmerin auf den Punkt bringt: „Normal sein ist langweilig.“
Manche Careleaver sehen in ihrer Wohngruppe oder ihrer Pflegefamilie ein tatsächliches „Zuhause“, dort wird den Erwachsenen auch so etwas wie eine Ersatzeltern-Rolle zugesprochen. Andere wiederum berichten von hochproblematischen Erfahrungen des Lebens in Einrichtungen. Alle aber eint die Erkenntnis, dass es von einzelnen Personen abhängt, ob dieses Leben in der Einrichtung als hilfreich oder behütet erlebt wird – weniger geht es um Einrichtungskulturen. Es geht um Personen, zu denen sie auch nach ihrer Jugendhilfezeit weiter Kontakt halten möchten.
Auffällig ist, dass die meisten Careleaver im Seminar von ihrer Zukunft eine klassische Vorstellung haben: Erstrebenswert ist ein geregeltes und abgesichertes Leben mit guten Freunden, in eigener Wohnung, mit abgeschlossener Ausbildung und festem Arbeitsplatz, finanziell gut abgesichert, in einer Familie mit festem Partner und oft mehreren Kindern.
Am Nachmittag wurden alle Careleaver gebeten, einen vorbereiteten Steckbrief auszufüllen: Was war mein verrücktestes Erlebnis bisher in meinem Leben? Welche drei Wünsche könnte mir eine Fee erfüllen? Was gefällt mir in meiner Wohngruppe bzw. in meiner Pflegefamilie am besten? Im Anschluss wurde eine Geschichte vorgelesen über Kraft und Stärke und über Verlassen sein und Neues entdecken. Daran schloss sich die Frage: Was macht mich eigentlich stark? Die Antwort darauf fällt natürlich sehr individuell aus. Uns ging es darum, ein Bewusstsein zu schaffen für die Dinge, Menschen und Prozesse, die die Careleaver jeweils stark machen und weg von denen, die sie schwächen.
Nach diesen inhaltlich dichten Phasen und Debatten brauchte es dringend Abwechslung und Bewegung. Also ging es zum Beach- Volleyball- Spielen am Strand der Elbe und später in eine Trampolinhalle, in der Careleaver hoch hinaus sprangen. Das hat viel Spaß gemacht.
Der Sonntag war geprägt von der Frage: was macht Careleaver aus und was macht mich als Careleaver aus? Dazu haben die jungen Menschen in einer Art Manifest der Careleaver zusammengetragen:
Wer in der Jugendhilfe lebt, ob in einer Wohngruppe oder bei einer Pflegefamilie, weiß, dass dieses Leben dort ein Ende hat. Meist endet es spätestens mit dem 18. Lebensjahr. Das müsste zwar nicht sein – es gibt auch die Möglichkeit, länger dort zu leben – aber in der Regel beenden die Einrichtungen und die Jugendämter diese Hilfen mit dem 18. Lebensjahr. Bei wem dieser Wechsel droht, oder wer ihn schon durchlebt hat, kann sich Careleaver nennen (Care = Hilfe; Leaving = Verlassen). Es sind Menschen, die Hilfen verlassen (müssen). Übrigens: Wer zu Hause bei den Eltern aufwächst, zieht im Durchschnitt erst mit 24 ein halb Jahren aus.
Careleaver müssen den Übergang vom Leben in der Jugendhilfe hin zu einem selbständigen Wohnen und Leben also früher durchmachen. Und sie sind in der Regel mit mehr Belastungen unterwegs. Sie haben häufig keinen entspannten und belastbaren Kontakt zu den eigenen Eltern, haben häufig wenig finanzielle Unterstützung, können nicht mal einfach nach Hause gehen, um Wäsche zu waschen oder den Computer zu nutzen, können häufig nicht mal so eine Nacht zu Hause schlafe – sie haben insgesamt in vielen Fällen weniger Unterstützung als diejenigen, die bei ihren Eltern aufwachsen konnten.
Zwölf Careleaver haben auf Einladung des Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. und mit Unterstützung der Drosos Stiftung ein erstes Wochenende gemeinsam in Dresden verbracht. Das ist in Sachsen eine Premiere und sie ist rundum geglückt. Zwölf junge Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren fanden sich auf dem CVJM-Jugendschiff auf der Elbe ein, um sich kennenzulernen, miteinander zu diskutieren und voneinander zu profitieren. Alle Careleaver leben oder lebten in Wohngruppen der Jugendhilfe oder in Pflegefamilien. Sie sagen ganz deutlich, dass es einfacher ist, sich zu öffnen, wenn klar ist, dass alle ein ähnliches Schicksal teilen. Darin liegt wohl auch die spezielle Qualität, die sich an dem Wochenende entwickelt hat.
Fast alle reisten allein an, fast niemand von den jungen Menschen kannte sich vorher. Nach einer ersten Kennenlern-Runde am Freitag und dem Beziehen der Kabinen haben die Careleaver gemeinsam mit den vier Teamer_innen ihre Erwartungen, Befürchtungen und Wünsche ausgetauscht, die sie an und gegenüber diesem Seminar hatten. Daraus wurde dann ein Seminarplan entwickelt, der für dieses und die noch kommenden zwei Seminarwochenenden gelten soll. Erwartet werden viel Neues zu erfahren, viele Gespräche und Diskussionen, Akzeptanz und ein ordentlicher Umgangston sowie Ehrlichkeit und Offenheit. Viel verlangt für eine Runde von jungen Menschen, die sich bisher nicht kannte. Es sollte sich herausstellen, dass dies alles weitgehend so eintreten würde. Nach der Diskussion um gemeinsame Regeln und einem Spieleabend ging es am kommenden Morgen um 8 Uhr mit dem Frühstück weiter.
Der Samstag stand unter dem Motto: Wer bin ich und was macht mich stark? So haben wir den Tag mit der Arbeit an vier Thementischen begonnen. Nacheinander gingen alle Gruppen (je 3 bis 4 Careleaver) zu verschiedenen Tischen, an denen diskutiert wurde: Was zeichnet mich aus? Mein Leben in der Pflegefamilie/Wohngruppe. Wo sehe ich mich in 10 Jahren? Wie wird in meiner Einrichtung mit den Ehemaligen/Careleaver umgegangen? Im Laufe der Diskussionen wurde klar, dass Careleaver durch ihre wechselvolle Lebensgeschichte keine Angst mehr vor kommenden Herausforderungen haben. Das Wissen um bereits bewältigte Krisen scheint für diese Jugendlichen ein wichtiger Widerstandsfaktor zu sein. Was die Urteile der Mitmenschen betrifft, haben sie sich ein dickes Fell wachsen lassen. Die Careleaver waren nach eigenen Angaben viel eher bereit, anderen zu helfen als auf sich selbst zu achten. Die Wertung dieser Eigenschaft – „Hilfsbereitschaft“ – war entsprechend ambivalent. Grundsätzlich waren die teilnehmenden jungen Männer und Frauen des Careleaver-Wochenendes überzeugt von den Vorteilen ihrer besonderen Lebensgeschichte, was folgendes Zitat einer Teilnehmerin auf den Punkt bringt: „Normal sein ist langweilig.“
Manche Careleaver sehen in ihrer Wohngruppe oder ihrer Pflegefamilie ein tatsächliches „Zuhause“, dort wird den Erwachsenen auch so etwas wie eine Ersatzeltern-Rolle zugesprochen. Andere wiederum berichten von hochproblematischen Erfahrungen des Lebens in Einrichtungen. Alle aber eint die Erkenntnis, dass es von einzelnen Personen abhängt, ob dieses Leben in der Einrichtung als hilfreich oder behütet erlebt wird – weniger geht es um Einrichtungskulturen. Es geht um Personen, zu denen sie auch nach ihrer Jugendhilfezeit weiter Kontakt halten möchten.
Auffällig ist, dass die meisten Careleaver im Seminar von ihrer Zukunft eine klassische Vorstellung haben: Erstrebenswert ist ein geregeltes und abgesichertes Leben mit guten Freunden, in eigener Wohnung, mit abgeschlossener Ausbildung und festem Arbeitsplatz, finanziell gut abgesichert, in einer Familie mit festem Partner und oft mehreren Kindern.
Am Nachmittag wurden alle Careleaver gebeten, einen vorbereiteten Steckbrief auszufüllen: Was war mein verrücktestes Erlebnis bisher in meinem Leben? Welche drei Wünsche könnte mir eine Fee erfüllen? Was gefällt mir in meiner Wohngruppe bzw. in meiner Pflegefamilie am besten? Im Anschluss wurde eine Geschichte vorgelesen über Kraft und Stärke und über Verlassen sein und Neues entdecken. Daran schloss sich die Frage: Was macht mich eigentlich stark? Die Antwort darauf fällt natürlich sehr individuell aus. Uns ging es darum, ein Bewusstsein zu schaffen für die Dinge, Menschen und Prozesse, die die Careleaver jeweils stark machen und weg von denen, die sie schwächen.
Nach diesen inhaltlich dichten Phasen und Debatten brauchte es dringend Abwechslung und Bewegung. Also ging es zum Beach- Volleyball- Spielen am Strand der Elbe und später in eine Trampolinhalle, in der Careleaver hoch hinaus sprangen. Das hat viel Spaß gemacht.
Der Sonntag war geprägt von der Frage: was macht Careleaver aus und was macht mich als Careleaver aus? Dazu haben die jungen Menschen in einer Art Manifest der Careleaver zusammengetragen:
Manifest der Careleaver
Careleaver sind Jugendliche mit verschiedenen Charakteren, mit unterschiedlichen Stärken, Schwächen, Wünschen und Zukunftsträumen. Es sind junge Menschen mit verschiedenen schwierigen Lebensgeschichten, mit besonderen Lebensumständen und aus unterschiedlichen Verhältnissen, die manchmal besondere Aufmerksamkeit benötigen, weil sie diese nicht immer ausreichend erhalten haben. Sie geben sich gegenseitig Unterstützung wenn sie Hilfe im weiteren Leben brauchen. Careleaver verlassen bald die Jugendhilfe, also eine WG oder ihre Pflegeeltern oder sie haben sie schon verlassen.
Careleaver können mehr als externe Personen erwarten. Sie haben mehr Erfahrungen als Kinder, die Zuhause leben. Dadurch können sie ihren eigenen Weg klarer strukturieren und organisieren. Manchmal werden sie falsch eingeschätzt oder aufgrund ihrer Vergangenheit verurteilt oder bemitleidet.
Careleaver brauchen Hilfestellungen bei der Vorbereitung und dem Auszug an sich, bei der Wohnungssuche. Sie brauchen Zeit, ihr eigenes Leben zu strukturieren und organisieren. Außerdem brauchen sie soziale Kontakte aber auch Ruhe.
Careleaver wollen selbständig sein aber auch nicht allein gelassen werden. Sie wollen ernst genommen werden. Sie wollen ihr Leben nach eigenen Wünschen leben. Sie wollen respektiert werden. Sie haben einen Wunsch nach Familie und Vertrauen. Sie wollen so wie alle anderen Jugendlichen betrachtet werden.
Anschließend wurden Themen für die kommenden Seminar-Wochenenden gesammelt. Es soll um folgende Fragen gehen: Welche Kinderrechte gelten für mich? Welche Kinderrechte gelten im Heim? Wie kann ich mit meiner Familie nach meinem Auszug aus WG/Pflegefamilie umgehen? Bin ich für leibliche Herkunftseltern zuständig? Muss ich für sie zahlen? An wen kann ich mich wenden, wenn ich ausgezogen bin? Wie plane ich den Auszug – wie mache ich das? Gibt es Rituale für den Auszug – wie kann ich das gestalten? Wie organisiere ich mich, wenn ich für alles allein zuständig bin? Wie finanziere ich mich? Auf welche Sozialleistungen habe ich einen Anspruch? Wer ist für welche Anträge zuständig? Wie kann ich mit Ämter und Behörden umgehen? Welche Versicherungen brauche ich mindestens? Welche Versicherungen wären gut? Welche sind nicht nötig? Worauf muss ich beim Mietvertrag achten? à Viele Themen für die kommenden zwei Wochenenden.
Die Rückmeldungen am Sonntag machen uns Lust, diesen Weg weiterzugehen. Das Essen war gut, die Stimmung super, der Austausch war hilfreich, die Thementische gut, es gab viele offene Gespräche, es wurde von Problemen und von Hoffnungen berichtet, niemand war ausgeschlossen, wir haben uns nicht gestritten, uns aber auch manchmal nicht gegenseitig zugehört – das war schade. Aber alle Careleaver wollen zum kommenden Seminar wieder mitkommen. Wir werden berichten auf www.careleaver.muskepeer.de
Danke an die Careleaver, die sich auf das Format eingelassen haben.