KJRV_Brueckensteine_Wo will ich hin

Wo will ich hin? Mein Weg in ein selbstbestimmtes Leben!

Der Seminarbericht vom 2. Careleaver – Wochenende

Vom 22. bis 24. Juni 2018 fand das zweite Seminarwochenende von insgesamt drei Wochenenden, mit einer Gruppe von 14 jungen Menschen statt, die Careleaver*innen sind und die gemeinsame Erfahrung teilen, das sie in der Kinder- und Jugendhilfe in Wohngruppen oder bei Pflegeeltern leben bzw. gelebt haben. Begleitet wurden sie an diesem Wochenende wieder von 5 Fachkräften des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins, die Erfahrungen in der Arbeit mit Gruppen in der Kinder- und Jugendhilfe haben. Nachdem alle Teilnehmer*innen um 17:30 Uhr die Unterkunft, das CVJM-Jugendschiff erreicht hatten, freuten sich alle sehr, über das Wiedersehen bekannter Gesichter und darauf, gemeinsam wieder ein Wochenende als Gruppe zu verbringen.

Nach der Begrüßung und dem Bezug der Zimmer, gab es einen kurzen Überblick über den Ablauf und die Inhalte des gemeinsamen Wochenendes. Im Anschluss daran erlebte die Seminargruppe realitätsnah und interaktiv, die Besichtigung einer Wohnung, bei der Rollen verteilt, viele Fragen gestellt und Inhalte ausführlich besprochen wurden zum Thema: Meine erste eigene Wohnung, was muss ich beachten und worauf muss ich achten, wenn ich eine Wohnung besichtige? Dabei gab es viele wichtige Hinweise und Anregungen, wie beispielsweise auf Geräusche und Lärm bei geöffnetem Fenster zu achten, sich die Fußleisten, Türen, Fenster, Heizkörper sowie die Wände und Böden genauer anzusehen und dabei auf Schäden und Mängel zu achten und auf ein genaues Übergabeprotokoll mit einer vollständigen Mängelliste zu bestehen, welches bis zu 14 Tage nach dem Einzug nachgereicht werden kann. Des Weiteren war es wichtig sich zu erkundigen, ob Haustiere erlaubt sind, welche Menschen hier noch im Haus wohnen, ob es Probleme mit Schimmel gab, wie hoch die letzte Nebenkostenabrechnung war und individuelle Absprachen zu treffen, wie beispielsweise die Renovierung der Wohnung und dafür die ersten Kaltmieten zu sparen.

Verschiedene Unterlagen sind vorab zu organisieren, wie beispielsweise eine Mieterselbstauskunft, ein Nachweis über gesicherte Einkünfte (Arbeitgeber, Ausbildungsstelle oder Jobcenter) oder eine Mietschuldenfreiheit vom vorherigen Vermieter, falls es einen gab.
Es kann eine Bürgschaft notwendig sein, bei der der Bürge nur theoretisch haftbar gemacht werden. Wird eine Kaution von maximal drei Kaltmieten verlangt, ist eine Bürge normalerweise nicht mehr nötig. Außerdem sollte die eigene Perspektive, wie lange bleibe ich in dieser Stadt und dieser Wohnung, vorher weitgehend klar sein, da Mietverträge auch eine Mindestmietdauer von beispielsweise 24 Monaten beinhalten können, von der man nur in Ausnahmen zurücktreten kann. Wichtige weitere Kosten, die nicht in der Miete oder den Nebenkosten enthalten sind, könnten sein: Telefon und Handykosten, Internet-, Kabel- oder Satellitenanschluss und der Strom, der zwar da ist, wenn man einzieht, aber angemeldet werden muss, beispielsweise bei der DREWAG. Der Mietvertrag wird etwa einen Monat vor Einzug unterschrieben, die Schlüsselübergabe erfolgt etwa zwei Tage vorher. Wichtig zu wissen für alle Mieter*innen ist außerdem: Maklergebühren müssen nach geltendem Recht von der Person gezahlt werden, die den Makler beauftragt. Jegliche „Bearbeitungsgebühren“ für neue Mieter*innen an den oder die Makler*in sind nicht erlaubt. Und unser letzter Tipp: Nehmt euch jemanden Vertrautes mit zur Wohnungsbesichtigung, denn vier Augen sehen mehr als zwei. Nach dem langen und intensiven Abend mit so vielen Inhalten und Informationen gab es noch ein gemeinsames Abendessen, einen Spaziergang nach Hause und den Start in ein spannendes und informatives Wochenende mit dem „Mörder*in“ und dem „Werwolf“-Spiel.

Der Samstag wurde inhaltlich nach den Themen ausgerichtet, die sich die Careleaver*innen am ersten Seminarwochenende gewünscht hatten. Nach dem Warm Up „Low Five“ ging es direkt in drei verschiedene thematische Arbeitsgruppen zu den Themen:
I) „Finanzen/Anträge,/Steuern/Gelder“, II) „Versicherungen“ und III) „Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Fluchterfahrungen“ mit einem Gastreferenten vom Sächsischen Flüchtlingsrat e. V. In der ersten und dritten Arbeitsgruppe konnten die Careleaver*innen konkrete Fragen stellen zu Finanzierungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, zum Umgang und der Relevanz von Steuerzahlungen und zu allen Arten von Anträgen. Einzelfallfragen wurden diskutiert, beantwortet und hilfreiche Informationen geteilt.
Wichtige Themen für die Careleaver*innen waren u.a.: Wie schütze ich mein Einkommen vor der Kostenheranziehung? Welche Förderungen gibt es für den Ausbildungsweg, den ich mir wünsche? Worauf habe ich Anspruch nach meinem Auszug aus der Jugendhilfe? In der Arbeitsgruppe zwei, zum Thema Versicherungen, ging es mit einem Versicherungs-Memory „Welche Versicherung brauche ich für welchen Versicherungsfall?“, dem Versicherungspsychotest: „Welcher Versicherungstyp bin ich?“ und einem Multiple-Choice-Test spielerisch aber nicht weniger inhaltlich zu.
Nach dem Mittagessen und einer großen Pause mit Blick auf die Elbe ging es mit einem Planspiel weiter. Die Tatsache vor dem Auszug und dem eigenen Weg in ein selbstbestimmtes leben zu stehen, konnten die Careleaver*innen nun ganz konkret und praktisch erproben. Wie fühlt es sich an? Wie setze ich das praktisch um? Wie wende ich mein zuvor erworbenes Wissen aus den thematischen Arbeitsgruppen, konkret an?

Wie verhalte ich mich gegenüber Personen und ihren Institutionen, wie beispielsweise  Jobcenter, Versicherungsagenturen, Immobilien/Wohnungsmakler*in, Sozialamt oder Bürgerbüro? Wie strukturiere ich mich? Welche Informationen muss ich preisgeben, wozu bin ich verpflichtet und was steht mir rechtlich zu, auch wenn es mir keiner ausdrücklich sagt? In diesem Finanzplanspiel arbeiteten die Careleaver*innen in Gruppen, ausgestattet mit jeweils einer von 4 Persönlichkeiten. Alle Gruppen hatten nun die Aufgabe für diese Person in ihrer aktuellen Lebenslage eine Perspektive zu entwickeln. Es gab ein Versicherungsunternehmen, die Bundesagentur für Arbeit, das Jobcenter, ein Maklerbüro und eine Umzugsberatung. Der Nachmittag war begleitet von zahlreichen Diskussionen und Verhandlungen zwischen den „Institutionen“ und den Careleaver*innen, die für ihre Persönlichkeit auf der Suche nach einer Perspektive waren.

Sie probierten sich aus, ließen sich beraten, stellten Anträge, holten Angebote ein, unterschrieben Verträge und stellten am Ende fest:
„ICH HÄTTE NIE GEDACHT, DASS ES SO EXTREM ANSTRENGEND IST, SICH UM ALLES ZU KÜMMERN, WAS MIT DEM AUSZUG ZU TUN HAT. MAN MUSS AUCH ERST MAL GUCKEN, WAS MAN ÜBERHAUPT BRAUCHT UND WAS NICHT.“ „DIE WOHNUNGSSUCHE WAR SUPER SCHWIERIG. UND WAS DA ALLES DAZU KOMMT: NEBENKOSTEN, STROM, VERSICHERUNGEN UND, UND, UND.“
„DIESES SPIEL HAT MIR ECHT SEHR GEHOLFEN FÜR SPÄTER UND MIR DIE AUGEN GEÖFFNET“ „ICH HABE GELERNT, WIE WICHTIG ES IST ZU LESEN BEVOR ICH WAS UNTERSCHREIBEN. SONST LASSE ICH MIR NUR WAS ANDREHEN. DAS PASSIERT MIR HOFFENTLICH NICHT IN WIRKLICHKEIT!“ „WIR MUSSTEN WIRKLICH SELBER VIEL HIN UND HER ÜBERLEGEN, WIE WIR DIE PROBLEME LÖSEN UND ES WURDE UNS ECHT NICHT LEICHT GEMACHT“ „AUS ZWEI BLÄTTERN WURDEN PLÖTZLICH 20. ICH HATTE KEINE AHNUNG, DASS ES SO VIELE UNTERLAGEN BRAUCHT.“

Nach diesem informativen und arbeitsintensiven Vormittag und Nachmittag, war nun ein erholsamer und entspannter Abend geplant. Die Careleaver*innen des aktuellen Seminars waren verabredet mit Careleaver*innen aus den vorherigen Seminarreihen und dem Careleaver-Treff des KJRVs, der einmal monatlich statt findet. Diese Begegnung fand in den Räumlichkeiten des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins statt, bei der das gegenseitige Kennen lernen, der Austausch untereinander, Kontakte knüpfen, Spiele spielen sowie gemeinsames Grillen, Essen, das Fußball-WM Spiel sehen und Musik hören in entspannter Atmosphäre, im Vordergrund standen. Nach diesem Ereignisreichen und gefüllten Tag kehrten alle wieder gemeinsam vor Mitternacht auf das CVJM-Jugendschiff zurück.

Der Sonntagmorgen begann nach dem Frühstück mit dem Warm Up „My Pony“, das eine Careleaverin aus der Gruppe anleitete, recht sportlich und sangesfreudig. Nachdem alle munter waren begann der Vormittag mit Rollenspielen, in denen die Careleaver*innen selbst aktiv wurden. Sie übernahmen Rollen, verschiedener Charaktere und spielten kurze Sequenzen aus Hilfeplangesprächen durch, entsprechend ihrer kurzen Beschreibung der jeweiligen Rollen. Dabei konnten sie sich ausprobieren und experimentieren, wie es sich anfühlt in einer bestimmten Rolle zu agieren.
Es wurden verschiedene Charakterkarten verteilt, wie beispielsweise den/die Jugendliche*n, einen/eine ASD Mitarbeiter*in, den/die Erziehe*rin, eine*n FSJler*in und den/die Lehrer*in. Der Plot war dabei nur angedeutet und die Careleaver*innen improvisierten mutig und neugierig beispielsweise folgende Szene:
Die Jugendliche möchte ihren Schulabschluss nicht nachholen. Die Lehrkraft übergeht diesen Wunsch, da sie glaubt das Beste für ihre Schülerin zu wollen. Die ASD Mitarbeiterin kennt die Jugendliche und ihren Fall so gut wie gar nicht, der Betreuer sagt wenig. Ein Streitgespräch entsteht.

Letzte Woche (19.01.22) erschien ein Artikel in der Dredner Neueste Nachrichten (DNN) über unsere Arbeit, den wir sehr gelungen finden. Der Artikel fängt ein bisschen die Atmosphäre unseres Ortes ein (nein, ein Traumhaus ist es nicht im eigentlichen Sinn), klärt auf über die Probleme von Careleaver:innen, stellt eine Careleaver:in vor (Jessy), erzählt von den Angeboten im HoD, nennt die Stiftung, die uns unterstützt (Drosos Stiftung) und berichtet über einen unserer Preise, die wir kürzlich bekommen haben (Hanse-Merkur-Preis). Wir danken für diese Möglichkeit! Damit noch mehr Careleaver:innen den Weg zu uns finden.

Im Anschluss daran sprachen die Careleaver*innen über ihre Gefühle und Wahrnehmungen, in ihrer jeweiligen Rolle, und teilten sich u.a. untereinander mit, ob sie sich wohl gefühlt haben, was wirklich anstrengend war und bemerkten verschiedene Rollen und Perspektiven der jeweiligen Charaktere. Die Machtrolle der übergriffigen Lehrerin empfand eine Teilnehmerin als unangenehm, der Careleaver fühlte sich in seiner Rolle als Betreuer übergangen. Die Careleaverin, die auch in diesem Kontext die Careleaverin war sagte: „Eigentlich hätte ich zuerst sprechen müssen als Jugendliche und eigentlich haben die Betreuenden eine Beschützungsfunktion. Ich habe versucht in meinen Wünschen und Vorstellungen klar zu bleiben, aber je mehr Menschen dabei sind, desto belastender ist das Gespräch. Ich habe mich unter Druck gesetzt gefühlt und die Stimmung war irgendwie negativ“.

Im Anschluss an diese Einheit gab es einen Rückblick, eine Auswertung und einen Ausblick auf das dritte und letzte gemeinsame Wochenende der Careleaver – Seminarreihe. Mit einer symbolischen Reise durch das erste und zweite Wochenende ging es in die Auswertung.
Der O-Ton: „Nach all den Inhalten habe ich verstanden, dass man ein dreiviertel Jahr vor dem Auszug anfangen sollte sich zu organisieren.“ „Es war schön die ´alten´ CLs kennenzulernen und alle wieder zu sehen. Ich fühle mich wohl in der Gruppe. Besser hätte es nicht werden können. Danke für das schöne zweite Wochenende.“

Bei der Themensammlung für das letzte gemeinsame Wochenende kristallisierten sich folgende Kernthemen heraus: Welche Ansprechpartner und sozialen Netzwerke habe ich nach dem Auszug? Was kommt auf mich emotional, persönlich und organisatorisch zu, wenn ich alleine wohne? Wie genau komme ich an einen Ausbildungsplatz? Wie bewältige ich Krisen? Und was kann ich tun, wenn ich nicht aus der Jugendhilfe ausziehen will? Diese Themen machen Lust auf das nächste Wochenende. Nach dem obligatorischen „Und-Tschüss“ Schrei im Kreis und einem Abschluss-Gruppen-Foto war das gemeinsame Wochenende beendet. Die Careleaver*innen machten sich auf dem Weg zum Bahnhof und fuhren in ihre Wohngruppen zurück.

Es war eine intensive und wirklich schöne gemeinsame Zeit. Die Careleaver*innen in der Gruppe haben sich noch ein wenig besser kennen gelernt und konnten einander vertrauter werden. Insgesamt ist diese Seminargruppe ausgesprochen stark, rücksichtsvoll und achtsam im Umgang miteinander und darüber hinaus sind diese jungen Menschen ausgesprochen interessiert, reflektiert und besitzen einen Blick dafür, wohin sie konkret wollen und haben ein Gespür dafür, was sie wollen und brauchen.

Es gab schwierige, aber auch und vor allem viele, viele wunderbare, beeindruckende, spaßige und intensive Momente. Nur das Wetter hätte besser sein können. Aber ein Wochenende haben wir ja noch vor uns…

Skip to content