Es ist wieder eine ganze Menge los in der Kinder- und Jugendhilfe: In Dresden steht ein etabliertes Projekt des KJRV auf der Kippe - hier bitten wir Sie um Unterstützung. Bundesweit Schlagzeilen machte der Abschlussbericht zum sogenannten "Kentler-Experiment" - dieser wird die Fachszene absehbar beschäftigen. Die Frage der geschlossenen Unterbringung und freiheitsentziehender Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe wird wieder aktuell - unter anderem durch die Evaluation des § 1631 b BGB. Taschengeld darf nicht gekürzt werden - auch nicht nach Abschaffung der sogenannten Kostenheranziehung, so ein Rechtsgutachten. Und wir waren mit jungen Menschen am letzten Wochenende unterwegs, um über Kinderrechte in der Heimerziehung zu sprechen. Von all diesen Themen können Sie in diesem Newsletter lesen. |
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2) Careleaverzentrum bittet um Spenden |
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Wir, das House of Dreams. Das Careleaver-Zentrum "HoD" in Dresden, benötigen Unterstützung! Wir sind ein Projekt des Kinder- und Jugendhilferechtsverein und wir haben für dieses Jahr nicht die von uns benötigten und beantragten Mittel durch die Stadt Dresden erhalten. Um weiter verschiedene wichtige Angebote für die Careleaver:innen anbieten zu können, starten wir eine Spendenaktion. Wir sammeln Geld für das wöchentlich stattfindende gemeinsame Kochen – eine für die Careleaver:innen besonders wichtige gemeinsame Zeit und für viele mittlerweile fester Bestandteil der Woche.
https://betterplace.org/p134987
Jeder Euro zählt! |
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3) Abschlussbericht zum sogenannten „Kentler-Experiment“ erschienen |
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Seit 2018 forschen Kolleg:innen an der Universität Hildesheim zu Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Unter seiner Leitung wurden ab Mitte der 1960er Jahre in West-Berlin Jungen bei Pflegevätern aufgenommen, die wegen Kindesmissbrauch einschlägig vorbestraft waren. Nach einem ersten Zwischenbericht 2022 wurde nun der Abschlussbericht vorgelegt. Es sind Betroffene angehört worden, Akten analysiert worden, es wurden Zeitzeugen*inneninterviews durchgeführt sowie der fachöffentliche Diskurs untersucht. Als gesichert gilt, dass Gerold Becker (Odenwaldschule), Herbert E. Colla-Müller (Professor an der Pädagogische Hochschule Lüneburg) und Helmut Kentler sexualisierte Gewalt ausgeübt haben. Deutlich wird, dass es mehrere Pflegestellen und Einrichtungen in Berlin und Westdeutschland gab, in denen sexueller Missbrauch stattgefunden hat. Es gibt Hinweise darauf, dass „dass es ein Netzwerk von Akteur*innen gab, durch das pädophile Positionen geduldet, gestärkt und legitimiert sowie pädophile Übergriffe in unterschiedlichsten Konstellationen nicht nur geduldet, sondern auch arrangiert und gerechtfertigt wurden“ (Baader et. al. 2024: 9). Dieses Netzwerk bestand aus primär männlichen Behördenmitarbeiter:innen, Wissenschaftler:innen der Kinder- und Jugendhilfe, Unterstützer:innen der Heimreform und zog sich durch Behörden, Hochschulen, Forschungsinstituten sowie Bildungsinstitutionen. Das Netzwerk habe „Wohngemeinschaften und Pflegestellen bei pädophilen Männern nicht nur geduldet, sondern in der Fallverantwortung begleitet und unterstützt“ (ebd.: 13). Als Teil des Netzwerks werden Martin Bonhoeffer, Hartmut von Hentig, Axel Schildhauer, Hans Thiersch, Peter Widemann und Anne Frommann genannt; Orte des Netzwerks sind Göttingen, Berlin, Tübingen, Lüneburg, Heppenheim/Odenwaldschule und Hannover. Die Protagonist:innen hatten ähnliche reformpädagogische Bestrebungen, eine hohe Reputation, beriefen und bezogen sich aufeinander, sahen sich als „Reformer“ und waren einander freundschaftlich verbunden. Es wird von Machtmissbrauch von Professoren über Einflussnahme auf Jugendämter und gutachterliche Stellungnahmen berichtet, einzelne Jungen wurden zwischen den verschiedenen Orten des Netzwerks hin und her überstellten. Die Analyse der Fallakten, die ebenso Teil des Aufarbeitungsprozesses war, macht eindrücklich deutlich, wie die Jugendämter die Unterbringung bestimmter Jungen in Einrichtungen des Netzwerkes vorbereitet haben. Zum Teil werden Mitglieder des Netzwerks in einzelnen Fällen aktiv, obwohl sie gar nicht zuständig waren; zum Teil sind Unterbringungen nicht nachvollziehbar argumentiert; zum Teil werden Unterbringungen erst nachträglich legitimiert. Die Orte, an denen Missbrauch stattfanden, waren lange Zeit Referenzorte für praktische sozialpädagogische Reformen. Die Kombination ,Orte der Reform´ und ,Experten der Sozialpädagogik´ machten das Netzwerk über lange Zeit beinahe unangreifbar (ebd.: 44). Die befragten betroffenen Personen schildern, dass sie bis heute Angst haben, ihre Erfahrungen öffentlich zu schildern, da sie befürchten, „von bestehenden wissenschaftlichen Netzwerken diffamiert und verletzt zu werden bzw. in öffentlichen (wissenschaftlichen, kirchlichen etc.) Kreisen auf Zurückweisung zu stoßen“. Damit wirken aus ihrer Sicht die Netzwerke weiter bis in die heutige Zeit. Der Bericht ist hier nachzulesen:
https://doi.org/10.18442/256 |
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4) Neuigkeiten aus (hier Kategorie Aktuelles) |
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5) Evaluierung des Gesetzes zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern |
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Beetz, Claudia; Böttcher, Sabine; Düring, Diana; Winge, Susanne: Evaluierung des Gesetzes zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern. Schlussbericht, 28.06.2023 (korrigiert). Online verfügbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachpublikationen/2023_Evaluierung_Gesetz_FamG_Genehmigungsvorbehalt_Download.html?nn=17120, zuletzt geprüft am 08.02.2024.
Im Jahr 2017 wurde der § 1631 b BGB geändert. Seitdem können nicht mehr allein die Eltern freiheitsentziehende Maßnahmen genehmigen. Sie können solche Maßnahmen beantragen, entscheiden muss aber ein Gericht. Wir als KJRV hatten dazu in einem Projekt mit betroffenen jungen Menschen eine Broschüre erarbeitet: www.freiheitsentzug.info Für die Kinder- und Jugendhilfe war diese Reform von großer Bedeutung – seitdem war es nicht mehr einfach möglich, junge Menschen in der Jugendhilfe einzusperren bzw. ihre Freiheit einzuschränken. Nun ist diese Reform von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg evaluiert worden. Die Forscher:innen haben fast 800 Gerichtakten analysiert, statistische Daten ausgewertet und Interviews geführt. Deutlich wurde, dass die Zahl der Verfahren ansteigen (rund 90.000 in vier Jahren, davon jährlich rund 700 Verfahren allein in Sachsen, S. 58), zwei Drittel aller Verfahren um die geschlossene Unterbringung geführt werden (der Rest um freiheitsentziehende Maßnahmen), der weitüberwiegende Teil der Freiheitsentziehungen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie beantragt wurde und nur rd. 10 % in der Kinder- und Jugendhilfe. Das Durchschnittsalter der jungen Menschen für die Maßnahmen beantragt wurden, liegt bei 13,5 Jahren. Als Gründe überwiegt die Eigengefährdung, das Verfahren dauert durchschnittlich knapp 40 Tage, rund ein Drittel aller Verfahren wurde innerhalb von bis zu 2 Tagen entschieden, etwas über 16 Prozent der Genehmigungen lauten auf mehr als ein Jahr (was rechtlich unzulässig ist), nur in knapp über 56 Prozent der genehmigten freiheitsentziehenden Maßnahmen wurden die ärztlichen Zeugnisse von im FamFG als zuständig benannten Fachärzt:innen erstellt, nur in rund 28 Prozent der ärztlichen Zeugnisse und Gutachten sind „mildere Mittel“ geprüft worden, auch in der Beschlussbegründung sind es nur knapp über 26 Prozent, in 77 Prozent aller Beschlüsse sind die Kinder oder Jugendlichen angehört worden, in 72 Prozent der Verfahren waren Verfahrensbeiständ:innen einbezogen, 14,5 Prozent der Anträge wurden abgelehnt, ein Drittel der Anträge endeten ohne Verfahren oder ohne Beschluss (weil die Maßnahme bereits beendet wurde), nur in 2 Prozent aller Beschlüsse sind anschließend Rechtsmittel eingelegt worden, in nur einem Fall hat das Kind eine Beschwerde eingelegt. Die Autor:innen empfehlen vor den Hintergrund der durch sie erhobenen Daten: (1.) Es brauche eine breite Sensibilisierung zum Thema Freiheitsentzug. (2.) Es brauche grundsätzliche Sensibilisierung zum familiengerichtlichen Genehmigungsbedarf freiheitsentziehender Maßnahmen, weil sich hier Wissensdefizite gezeigt hätten. Es brauche (3.) einen politischen Diskurs zu den notwendigen Ressourcen bezogen auf die Qualität der freiheitsentziehenden Maßnahmen, aber auch bezogen auf die Ressourcen der Maßnahmen, die ohne Freiheitsentzug auskommen. „Ziel muss es aber sein, freiheitsentziehende Maßnahmen zu verringern“. Es brauche (4.) umfassendes Systemwissen, (5.) Stärkung der Eltern durch Verfahrenslots:innen und Beratung, (6.) Transparenz gegenüber den Kindern und Jugendlichen, was mit ihnen warum und wie geschieht und auch, wie sie sich beschweren können, (7.) Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Vermeidung von freiheitsentziehenden Maßnahmen, (8.) Klarstellung zur Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen ohne Genehmigung, (9.) der Nichteinhaltung von Verfahrensregeln entgegenzuwirken, (10.) die Erforderlichkeit eines ärztlichen Gutachtens klarzustellen, (11.) die Prüfung milderer Mittel durchzusetzen, (12.) Informationslücken zur Betriebserlaubnis zu schließen, (13.) die Erweiterung der Genehmigungspflicht auf die allgemeine Bewegungsfreiheit, (14.) die Erweiterung der Genehmigungspflicht auf Zwangsbehandlungen, (15.) Sensibilisierung für die unbestimmten Rechtsbegriffe „in nicht altersgerechter Weise“ und „regelmäßig“ und Streichung des unbestimmten Rechtsbegriffs „über einen längeren Zeitraum“, (16.) der Überschreitung der gesetzlichen Höchstdauern in den Genehmigungen sowie der unzureichenden Begründung von Beschlüssen (17.) entgegenzuwirken, (18.) Beschäftigte in Einrichtungen zu Deeskalation und Krisenintervention weiterzubilden, (19.) die Etablierung eines gemeinsamen Verfahrens für freiheitsentziehende Maßnahmen für Kinder und Jugendliche mit seelischen, anderen und Mehrfachbehinderungen sowie eine Systematische Beobachtung über ein Monitoring freiheitsentziehender Maßnahmen und geschlossener Unterbringung. Der komplette Bericht lässt sich hier nachlesen:
https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachpublikationen/2023_Evaluierung_Gesetz_FamG_Genehmigungsvorbehalt_Download.html?nn=17120 |
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6) DIJuF-Rechtsgutachten: Taschengeldkürzung nach Abschaffung der Kostenheranziehung unzulässig |
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Einige Jugendämter haben nach Abschaffung der Kostenheranziehung die Auszahlung des Taschengeldes an junge Menschen in stationären Einrichtungen gestoppt. Ein vom DIJuF veröffentlichtes Rechtsgutachten legt dar, dass der Taschengeldbetrag gem. § 39 Abs. 2 nicht einkommensabhängig ist und somit weiterhin in einer dem Alter des jungen Menschen entsprechend angemessenen Höhe auszuzahlen ist. Diese Auslegung wird durch die Begründung zum Gesetzesentwurf zur Abschaffung der Kostenheranziehung gestützt: „Der vorliegende Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Abschaffung der Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe sieht nunmehr vor, die Kostenheranziehung von Heim- und Pflegekindern, Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII sowie für ihre Ehegatten und Lebenspartner aufzuheben, damit diejenigen vollständig über das Einkommen verfügen können. Unverändert soll die Regelung des § 39 Absatz 2 SGB VIII bleiben, nach der das Leistungsspektrum auch ein angemessenes Taschengeld umfasst“ (BT-Drs. 20/4371, 7). Des Weiteren führt das Rechtsgutachten aus, dass auch Unterhaltsleistungen gem. § 39 Abs. 1 S. 2 SGB VIII (dazu gehören u.a. ausbildungsbedingte Fahrtkosten) einkommensunabhängig sind und somit ebenfalls nicht aufgrund der Abschaffung der Kostenheranziehung gekürzt werden dürfen. Weitere Infos und das vollständige Rechtsgutachten gibt es hier. Bei Konflikten im Rahmen von Unterhalts- und Taschengeldkürzung können sich junge Menschen und ihre Vertrauenspersonen an die nächstgelegene Ombudsstelle wenden.
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